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Su 16 th of June:
14 h: Bustour with Lecture: Felix Axster, Urban Ethnologist: Ghettodiskurs Neuallermöhe. Der Stadtteil als Imageprodukt

[Pictures] of the bustour to Neuallermöhe


Felix Axster
Städtischer Orientalismus – zum Ghetto-Diskurs um Allermöhe. Bericht einer Feldforschung.

Seit Anfang der 90er Jahre wird auf einer der größten Baustellen Hamburgs im östlichen Allermöhe ein neuer Stadtteil für ca. 20.000 Menschen gebaut. In Abgrenzung zu den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre verzichteten die stadtplanerischen Direktiven von Anfang an auf Hochhäuser. Vielmehr sollten alternative Konzepte wie Wohnen am Wasser, die Gartenstadt der 20er Jahre, ökologisches Bauen, eine gemischte Struktur aus Miet- und Eigentumswohnungen, die multifunktionale Nutzung der Straße als Teil des öffentlichen Raumes sowie die verstärkte Konzentration auf Grünanlagen und öffentlich nutzbare Sportflächen umgesetzt werden. Doch schon kurz nach Einzug der ersten Bewohnerinnen im Sommer '95 begann sich das einstige Image Allermöhes als eines der größten städtebaulichen Vorzeigeprojekte Europas zu wandeln. In den Hamburger Lokal- medien mischte sich eine zum Teil. berechtigte Kritik an den Planungsversäumnissen (fehlende Einkaufsmöglichkeiten, schlechte Verkehrsanbindung, keine fertig gestellten Schulen) mit anderen Topoi wie der vermeintlichen Ödnis des Stadtteils sowie dem hohen Aussiedlerinnenanteil an der Bewohnerinnenstruktur und etablierte die Rede vom sozialen Brennpunkt. Im Sommer '97 verdichtete sich der mediale Diskurs: Allermöhe wurde nun zu einem Ghetto bzw. – als ethnisch aufgeladene Variante – zu einem Russenghetto stilisiert. Es entstand das Szenario eines nach ethnischen Kriterien segregierten Stadtteils, in dem Angst das vorherrschende Lebensgefühl sei. Ein wesentlicher Kristallisationspunkt dieses Angst-Diskurses waren Berichte über die angebliche Verwahrlosung und Brutalisierung von Jugendlichen, festgehalten im Bild der von jungen Aussiedlern gebildeten Gang.
Mit dem Ghetto-Image wurde Allermöhe, das noch kaum als urbaner Raum zu existieren begonnen hatte, sehr schnell auf eine bestimmte Formel festgeschrieben. Auffallend war allerdings, daß der Eindruck, den man bei einem Besuch im Stadtteil selbst gewann, kaum mit den durch die mediale Bilderproduktion ausgelösten Assoziationen und Erwartungen übereinstimmte. Allermöhe präsentierte sich angesichts des durch zahlreiche Bagger und Kräne ausgelösten permanenten Baulärms sowie der ungepflasterten Straßen zwar als Großbaustelle, das bereits Entstandene ließ einen aber weniger an soziale Marginalisierung denn an bürgerliche Beschaulichkeit denken. Zudem strahlte der Stadtteil eine eigentümliche Faszination aus: Zwischen Mensch und Raum schien ein komisches Mißverhältnis zu bestehen, das sich bei dem Versuch, eine neue Wohnsiedlung auf dem Reißbrett zu entwerfen, wohl zwangsläufig ergeben muß. In der gleichzeitigen Unfertigkeit und totalen Durchdachtheit dieses Raumes wirkten die Menschen wie Fremdkörper. Noch gab es kaum Spuren der Nutzung und Aneignung, und der virtuell anmutende Raum wartete auf die Erfüllung seiner Bestimmung.

Die Leere des Raumes als Anreiz

Für einen Großteil der Bewohnerinnen machte diese augenscheinliche Leere den spezifischen Reiz Allermöhes aus. Der Umstand, daß dieser Stadtteil ein weitgehend unbeschriebenes und mit Leben und Inhalt zu füllendes Terrain darstellte, wurde vor allem als Qualität interpretiert. Das von außen mit Allermöhe assoziierte und in dem Einsatz des Ghetto-Begriffes kulminierende Stigma der Strukturlosigkeit fand hier seine positive Umdeutung. Wahrscheinlich wäre es kaum übertrieben, zu behaupten, daß die kollektive Erfahrung der Aneignung und aktiven Mitgestaltung eine Art Ursprungsmythos Allermöher Identität konstituierte. Gerade der affirmative Bezug auf das Provisorische der ersten Monate und Jahre nahm in den Erzählungen der Bewohnerinnen großen Raum ein. Die umgebauten Bauwägen zum Beispiel, in denen die MitarbeiterInnen? sozialer Einrichtungen wie dem Jugendzentrum und der evangelischen Kirche anfänglich arbeiten mußten, und die den Vorteil hatten, daß man mit ihnen in einem ständig wachsenden Stadtteil an verschiedenen Ecken präsent sein und dementsprechend adäquat auf die jeweilige Bedürfnislage reagieren konnte, wurden kaum als Mangel empfunden. Vielmehr symbolisierten sie ungewöhnliche und experimentelle Formen der Sozialorganisation, die der leere Raum notwendig machte.
Neben diesem Pioniergeist stellt die im Zuge des Ghetto-Diskurses erfolgte Stigmatisierung eine weitere kollektive Erfahrung der Allermöherinnen dar. Viele sahen sich, wenn sie Freundinnen erzählten, daß sie in Allermöhe wohnen, mit Unverständnis konfrontiert. Im Sommer '97 belagerten zahlreiche Journalistinnen und Fernsehteams auf der Suche nach vermeintliche Authentizität generierenden O-Tönen den Stadtteil. Doch die Stigmatisierung führte auch zu einem gegenteiligen Effekt, der aber als gleichermaßen absurd empfunden wurde: Mit dem Versuch, das einstige Image Allermöhes als innenstadtnahes Refugium für kinderreiche Familien zu retten, wurden erhebliche Summen städtischer Gelder aus anderen Stadtteilen abgezogen und in Form von kulturellen oder sportiven Initiativen in das deklarierte Problemgebiet eingespeist. Es entstand ein derartiges kulturelles Überangebot, daß sich die Bewohnerinnen Allermöhes kaum noch vor Veranstaltungen retten konnten. Zudem bliebe zu fragen, inwiefern nicht auch gut gemeinte Sportfeste gegen Rassismus das medial herbeiinszenierte Ghetto-Problem letztlich reproduziert haben. Ein bißchen weniger Rummel und Aufmerksamkeit jedenfalls hätten dem im Werden begriffenen Stadtteil und seinen scheinbar vernachlässigten Jugendlichen kaum geschadet.

Der Ghetto-Diskurs als Strategie des Othering

Heute hat sich die Situation in und um Allermöhe weitgehend beruhigt. Die Rede vom Ghetto hat sich verflüchtigt, und der Stadtteil ist aus den Tageszeitungen fast gänzlich verschwunden. Ebenso schnell, wie das Szenario herbeigeredet wurde, scheint es sich wieder aufgelöst zu haben. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Ghetto-Diskurs – wie der Stadtsoziologe Loic Waquant mit Blick auf die US-amerikanischen Verhältnisse konstatiert – "in weiten Teilen fantasmatisch" (Waquant 1997: 169) ist. Durch die Fokussierung der ungewöhnlichen und extremen Aspekte des sozialen Lebens werden die alltäglichen und banalen sozialen Interaktionen bedeutungslos. Das Ghetto erscheint als desorganisiertes, pathologisches Gebilde, das Assoziationen der Unordnung und des Mangels hervorruft. Dies führt Waquant zu Folge zu der "Tendenz, das Ghetto und seine Bewohner zu exotisieren" (Waquant 1998: 195). Teile der städtischen Bevölkerung, in denen minoritäre Gruppen wie Migrantinnen einen relativ hohen Prozentsatz ausmachen, werden als bedrohliche Andere bzw. Fremde hervorgebracht und ausgegrenzt. Gleichzeitig kann sich die Mehrheit in Gestalt des "nationalen Opferkollektivs" (Ronneberger 1998: 90) ihrer selbst vergewissern. Angesichts dieses Komplementäreffektes bezeichnet Waquant den Ghetto-Diskurs – in Anlehnung an den postkolonialen Theoretiker Edward Said – als "städtischen Orientalismus" (Waquant 1998: 206).
Der hohe Anteil an Aussiedlerinnen in Allermöhe, das die sogenannten Deutsch-Russen auch als Klein-Moskau bezeichnen, ist ein wesentlicher Aspekt bei der Frage, warum gerade dieser Stadtteil Gegenstand eines Ghettoisierungsdiskurses wurde. Ein weiterer Aspekt ist die beschriebene Spezifizität des Raumes, der sich aufgrund seiner Leere als Projektionsfläche für übergeordnete Konstruktions- und Identifikationsprozesse zu eignen schien. In diesem Zusammenhang stellt die auch in linken Kreisen verbreitete Vorstellung, daß gewachsene Strukturen bzw. ein gewachsener Raum ein Bemessungsparameter für Lebbarkeit und Humanität seien, und Humanität sich folglich nur mittels Tradition herstellen lasse, eine problematische Denkfigur dar. Der in dieser Figur angelegte Umkehrschluß, wonach Stadtteile wie Allermöhe lediglich synthetische Gebilde und ihre BewohnerInnen? Opfer einer unmenschlichen Planungspolitik seien, erweist sich möglicherweise lediglich als aufklärerische Variante eines städtischen Orientalismus.

Literatur
- Ronneberger, Klaus (1998): Urban Sprawl und Ghetto. Einige Fallstricke des Amerikanisierungsdiskurses. In: Prigge, Walter (Hg.): Peripherie ist überall. Frankfurt/ New York: 84-90.
- Waquant, Loic (1997): Über Amerika als verkehrte Utopie. In: Bourdieu, Pierre et al. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: 179-193.
- Ders. (1998): Drei irreführende Prämissen bei der Untersuchung der amerikanischen Ghettos. In: Backes, Otto/ Dollase, Rainer/ Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt: 194-210.


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